Der „Oh-Lala“-Effekt – offener Brief von Kristina Marlen an Jörg Thadeusz

Unser Mitglied Kristina Marlen wurde fürs Radio interviewt und hat etwas für Sexarbeitende Typisches erlebt.
Dieser offene Brief macht die Problematik deutlich.

Am 12.12.2017 um 19h wird das Interview gesendet: “WDR 2 Jörg Thadeusz”

Berlin, den 10.12. 2017

Hallo Jörg,

am letzten Mittwoch hatten wir ein Interview gemeinsam im ARD Hauptstadtstudio.
Danke nochmal für die Einladung. Es hat mich gefreut, Dich kennenzulernen.

Es sind nun ein paar Tage vergangen und aus gegebenem Anlass möchte ich Dir ein Feedback zu diesem Gespräch geben.
Als Überschrift möchte ich formulieren:
„Instant-Ratgeber für Journalisten im Umgang mit Sexarbeiter*innen“
oder
„Fragen die Du Sexarbeiter*innen nicht stellen solltest – und warum“.

Dein Redakteur hatte mir vor Beginn des Interviews einen Fragenkatalog geschickt. Er hatte sich ziemlich gut, wie ich finde, mit meiner Arbeit auseinandergesetzt und hat mir Fragen gestellt, die auch für mich neu waren und die ich spannend fand. Es hat mir Spass gemacht, darüber nachzudenken und hab mich auf das Interview gefreut, denn neue Blickwinkel sind wichtig für die Debatte um Sexarbeit . Sexualität ist ein Tabu, dem ich mich gerne öffentlich stelle, denn Zensur und Verklemmtheit haben noch keinen Diskurs weitergebracht.

Ich frage mich jedoch, warum Du diesen Fragenkatalog nicht ansatzweise genutzt hast. Zu meiner Überraschung kanntest Du die Fragen nicht einmal. Ich bin ein Mensch, der sich tatsächlich auf Gespräche vorbereitet. Ich ging davon aus, Themen des Gesprächs seien:
weibliche Kundschaft, die Frage nach erfüllter Sexualität für alle Geschlechter, die Magie von BDSM und auch politische Aspekte von Sexarbeit.

Es erschien mir, als seien es eher Deine persönlichen Fragen zu meinem aufregenden Job, die das Gespräch dominiert haben. Sich intuitiv durch ein Gespräch treiben zu lassen, ist ein legitimer Interviewstil. Aber auch hier spricht nichts gegen etwas Vorbereitung aufs Thema- und seine Fallen.

Ich habe in einem öffentlich-rechtlichen Sender nicht erwartet, dass ich mich gegen die üblichen Fragen wappnen muss, die nerven. Ich nenne sie jetzt einfach mal die „Oh-Lala“ Fragen. Wenn es keine Möglichkeit gibt, in offener, unaufgeregter Weise über Sexualität zu sprechen, dann passiert der “Oh-lala“ Effekt. Der bewegt sich zwischen Anzüglichkeit, Unsicherheit und Distanzlosigkeit. Er mündet leider allzu häufig in offenem Sexismus. Wenn ich mich mit YellowPress verabrede, rechne ich damit und gebe mich entsprechend schlagfertig oder treffe andere Vorsichtsmassnahmen.

Es gibt Gründe, warum Sexarbeiter*innen den Kontakt zu Medien meiden. Grund sind sensationslüsterne, grenzüberschreitende Fragestellungen, die nicht zum Thema gehören, respektlos sind und damit das Hurenstigma reproduzieren.

Du hast das nicht direkt gemacht. Aber indirekt. Ich möchte Dich darauf hinweisen, weil ich eine Sensibilisierung für Journalist*innen für gut halte.
Einige dieser üblichen Fragen sind zum Beispiel (bitte erlaube mir, an dieser Stelle zuzuspitzen)

-Wie hat die kleine Physiotherapeutin denn plötzlich angefangen, schmutziges, geiles Zeug zu machen?
Es ist legitim, mich zu fragen, wie ich zu meiner Arbeit gekommen bin. Die Art, wie Du insistiert hast um zu erfahren, wie „es“ passiert ist, kann ich nur als Kundenfantasie lesen.
Zum Glück hat Dein Team das Interview gut geschnitten. Um im Radio Dirty Talk zu machen, hätte das Gespräch besser (oder überhaupt) bezahlt sein müssen.

– Macht sie „Es“ denn nun wirklich? Kannst Du mich wirklich, wirklich ficken, wenn du mich bezahlst?
Dass das die Hauptfrage ist, die sich Dir stellt, nachdem Du meine Website liest, sei dahingestellt. Es lässt auf ein Verständnis von Sexualität schliessen, dass weit verbreitet ist und davon ausgeht, dass nur „Penis-in-Vagina“ Sex sei.
Ein Großteil meiner Arbeit dreht sich darum, dieses Verständnis von Sexualität zu erweitern. Schade, dass wir die Chance verpasst haben, darüber zu sprechen. Auch schade für die Hörer*innen.

– Was machst Du, wenn Du keine „Lust“ hast? Was soll diese Frage – zu Ende gedacht?
Was soll ich darauf antworten? „Nein, weißt Du- ich bin dauergeil?“
Ich habe gesehen, dass Du auch Gregor Gysi, Peter Maffay und Katja Kipping bei Dir in der Sendung hattest. Hast Du die auch gefragt, ob sie manchmal keine Lust haben, zu arbeiten? Wäre die Frage spannend gewesen?

-Was ist das aufregendste Angebot, das Du hast?
Detailgenaue Beschreibungen meiner Sessions habe ich abgewendet. Begründung: siehe oben, Bezahlung. Ich führe unzählige Gespräche am Telefon und weiss genau, wann jemand sich bereits die Befriedigung im Gespräch holt.

– Last but not least, ein Hinweis: es gibt Frauen, die Frauen begehren. Als es um weibliche Kundschaft ging, war es mir einen Moment so, als sei Dir das nicht geläufig. Frauen, die nicht heterosexuell lieben, sind nicht nur „Grenzgängerinnen“ oder suchen das Abenteuer, sondern sind vielleicht einfach lesbisch.

Ich bin total offen, über die Themen zu sprechen, die hinter Deinen Fragen stehen. Wahrscheinlich interessieren genau diese Fragen einen großen Teil des Publikums wenn es um Sexarbeit geht. Penetration zum Beispiel ist meiner Arbeit ja nicht einmal ein Tabu. Die Frage, wie ich Nähe, Sexualität und Intimität mit Menschen haben kann, unabhängig von meiner persönlichen Befindlichkeit, auch. Aber Deine professionelle Aufgabe als Journalist ist, mit mir als Expertin ein Gespräch über diese Brennpunkte zu beginnen, anstatt mir über die Gebühr persönliche und detailgenaue Fragen zu stellen.
Du hast im Gespräch das lustige Rollenspiel entwickelt, Du seist mein Kunde und wolltest meine Dienste in Anspruch nehmen. Ich hatte während des Gesprächs tatsächlich manchmal das Gefühl, genau dies sei der Fall- einen Kunden den ich, wäre er am Telefon gewesen, erstmal in seine Schranken gewiesen hätte.
Da ich aber im Radio gern auch Haltung bewahre, habe ich das nicht getan, denn es geht mir ja darum, Inhalte zu transportieren. Nun ärgere ich mich über meine unerschütterliche Höflichkeit, denn eigentlich hätte meine Reaktion mehr Wehrhaftigkeit erfordert.

Das wollte ich hiermit nachholen und hoffe, dass Du im Umgang mit der nächsten Sexarbeiterin etwas achtsamer bist – und besser vorbereitet.

Vielen Dank
und
mit herzlichen Grüßen
Marlen

PS: Noch ein Lob: Ansonsten finde ich es prima, dass der WDR diese Themen mit größerer Selbstverständlichkeit ins Programm holt. Ich wünsche mir genau jene Unverkrampftheit, die wahrscheinich auch Ziel des Gespräches war. Ich möchte, dass eher mehr Fragen als weniger gestellt werden und all Deine gehören dazu! Ich möchte mich als Gesprächspartnerin aber auch entspannnen können. Deshalb lies doch meine Email einfach als Hinweis für die Zukunft.

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