Das Unsichtbare sichtbar gemacht: Über die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Sexarbeiter*innen in der EU

Am internationalen Tag für die Rechte von Sexarbeiter*innen muss es ein besonderes Anliegen sein, weniger über moralische Befindlichkeiten, sondern stattdessen über die Lebensrealität von Menschen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten, zu sprechen. Denn obwohl Sexarbeit häufiger Gegenstand politischer und gesellschaftlicher Debatten ist, wird diese leider bevorzugt von moralischen, ideologischen oder philosophischen Standpunkten aus bewertet und diskutiert.

Selten wird auf die Lösung, Bekämpfung oder Milderung der konkreten Probleme von Sexarbeiter*innen eingegangen und kritische und vergleichende Analysen der realen Gegebenheiten finden wenig Beachtung. Auch politische Maßnahmen, die Sexarbeiter*innen betreffen, werden leider häufig auf Grundlage moralischer und ideologischer Positionen getroffen.

Diesen Zustand könnte die aktuelle Studie „Less equal than others“ (zu Deutsch etwa: „Weniger gleich[berechtigt] als andere“), die von der EU-Fraktion Die Linke in Auftrag gegeben wurde, ändern. Sie wurde im November letzten Jahres unter der Leitung von Alexandra Oliveira, einer Expertin in der Erforschung von Sexarbeit, Stigmatisierung und Gerechtigkeitsvorstellungen, fertiggestellt und Ende Februar diesen Jahres veröffentlicht.

Die Ergebnisse der Studie sollten in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden – es handelt sich um die erste systematische Untersuchung der Zusammenhänge zwischen europäischer Politik und Gesetzgebung in Bezug auf Sexarbeit und der Auswirkungen auf die Gesundheit, Sicherheit und Lebensbedingungen von Sexarbeiter*innen in den 27 EU-Mitgliedsstaaten.

Das Team von Forscher*innen analysierte in einer ersten Untersuchung die unterschiedlichen Straf-, Steuer-, Arbeits- und Gesundheitsgesetze, die auf Sexarbeiter*innen und deren Kund*innen angewendet werden. Die Ergebnisse zeigen, dass die Formen der Gesetzgebung im Bereich Sexarbeit in der Europäischen Union generell repressiv sind und die Tendenz besteht, Sexarbeiter*innen staatlich zu kontrollieren.

Die Vorgehensweisen lassen sich dabei grob in zwei Kategorien teilen: 1. Kriminalisierung – mit dem Ziel Prostitution einzudämmen, und 2. Regulierung – mit dem propagierten Ziel, Menschen in der Sexarbeit zu schützen.
In den Ländern Kroatien, Litauen, und Rumänien wird Sexarbeit in unterschiedlichen Varianten als Vergehen oder Verbrechen eingestuft – es ist illegal, sexuelle Dienstleistungen anzubieten und Sexarbeiter*innen, ihre Kund*innen sowie dritte involvierte Parteien können bestraft werden.

In 18 Ländern (Belgien, Bulgarien, Zypern, Tschechien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Malta, Polen, Portugal, Slowakei, Spanien, Schweden und Slowenien) werden Sexarbeiter*innen zwar nicht direkt kriminalisiert, aber manches ist ungeregelt und die Lage in einigen Fällen eher undurchsichtig. Viele Aktivitäten rund um Sexarbeit (zum Beispiel Werbung, das Stellen von Infrastruktur etc.) können sanktioniert und Kund*innen oder Dritte unter bestimmten Umständen bestraft werden.

In einigen Ländern dieser zweiten Gruppe, wie zum Beispiel in Frankreich und Irland, findet eine besonders ambivalente Variante der Kriminalisierung statt, die ihren Ursprung in Schweden hat und als Nordisches oder Schwedisches Modell bzw. Sexkaufverbot bekannt ist.

Sexarbeit wird in diesen Ländern generell als Gewalt gegen Frauen definiert, der Kauf von Sex ist verboten, Kund*innen und Dritte werden bestraft und Sexarbeiter*innen als Opfer wahrgenommen, die Schutz, Hilfe und Anleitung benötigen. Laut den Studienergebnissen findet hier eine De-facto-Kriminalisierung von Sexarbeiter*innen statt, die eine massive Erschwerung der Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie Stigmatisierung und Isolierung zur Folge hat. Zur historischen Einordnung dieser ideologischen Sichtweise verweisen die Forscher*innen auf die 1949 verabschiedete UN-Konvention „Zur Unterbindung des Menschenhandels und der Ausnutzung der Prostitution anderer“. Darin wird Prostitution als ein soziales Übel definiert, das mit der Würde des Menschen unvereinbar ist und das Wohlergehen des Einzelnen, der Familie und der Gemeinschaft gefährdet.

In sechs weiteren Ländern (Österreich, Deutschland, Griechenland, Ungarn, Lettland und die Niederlande) wird Sexarbeit als Tätigkeit betrachtet, die vom Staat im Namen der öffentlichen Gesundheit oder der öffentlichen Ordnung reguliert und kontrolliert werden muss. Die Maßnahmen zur Regulierung sind vielfältig und unterschiedlich. In einigen Ländern ist Sexarbeit als Beruf legalisiert, doch die repressiven Maßnahmen reichen von der erzwungenen Registrierung von Sexarbeiter*innen über Kontrolle der Personenstandsdaten bis hin zu verpflichtenden Gesundheitskontrollen oder ausgewiesenen Arbeitszonen. Das erklärte Ziel des Regulierungs-Modells ist der Schutz von Menschen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten. Laut der Studie findet durch die Regulierungs-Maßnahmen praktisch jedoch eine vermehrte Kontrolle und Überwachung von Sexarbeiter*innen statt. Im Fall von Deutschland wurde speziell die Einführung des Prostituiertenschutzgesetzes als Rückschritt bewertet, u.a. aufgrund der für Sexarbeiter*innen eingeführten stigmatisierenden Registrierungspflicht.

In einer zweiten Untersuchung haben die Forscher*innen bereits publizierte Studien systematisch analysiert und so die Auswirkungen der verschiedenen gesetzlichen Lösungen auf die Gesundheit, Sicherheit, und Lebens- und Arbeitsbedingungen von Sexarbeiter*innen in der EU beleuchtet. Die Ergebnisse zeigen, dass Kriminalisierung und Regulierung von Sexarbeit verheerende Auswirkungen auf das Leben und die Gesundheit von Sexarbeiter*innen hat.

Zu den negativen Folgen für Sexarbeiter*innen zählen der erschwerte Zugang zur Gesundheitsversorgung sowie Angeboten zur HIV- und STI-Prävention, die Zunahme der Häufigkeit von finanzieller, körperlicher und sexueller Viktimisierung, sowie Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen. Die vielerlei Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit der Betroffenen und auf deren Lebens- und Arbeitsbedingungen sind nachhaltig. Ein Dominoeffekt sorgt dafür, dass der durch die gesetzlichen Maßnahmen verursachte Schaden in einem Lebensbereich diesen auch in anderen Lebensbereichen nach sich zieht.

Die Studie deutet darauf hin, dass die Kriminalisierung von Sexkauf generell die Vulnerabilität von Sexarbeiter*innen steigert und damit das Risiko des Auftretens von sexueller Gewalt und Menschenhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung erhöht wird. Es wurden keine Belege dafür gefunden, dass ein Sexkaufverbot zu einer Verringerung von Sexarbeit geführt hat, oder wirksame Strategien der Schadensbegrenzung in der Praxis umgesetzt wurden.

Im dritten Teil der Studie wurden Formen des Aktivismus untersucht – sowohl Organisationen von Sexarbeiter*innen als auch abolitionistische Bewegungen. Die Ergebnisse zeigen die Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung zwischen Sexarbeit und Menschenhandel, sowie ein Ungleichgewicht zugunsten von Gruppen, die Sexarbeit bekämpfen.

Sexarbeiter*innen in der EU organisieren sich zunehmend, um für die Anerkennung von Sexarbeit als Arbeit und gegen Diskriminierung zu kämpfen. Auf der anderen Seite wurde festgestellt, dass das Wissen über Sexarbeit in den EU-Mitgliedsstaaten von Gruppen beeinflusst wird, die Sexarbeit als schädliche und abzuschaffende Institution betrachten. Sexarbeit wird als sexistische Gewalt eingestuft und mit allgemein verurteilten Verbrechen wie häuslicher Gewalt, Vergewaltigung, sexueller Ausbeutung und Menschenhandel gleichgesetzt. Vor allem weibliche Sexarbeiterinnen werden häufig als traumatisierte Opfer oder Überlebende generalisiert, pathologisiert und infantilisiert. Widersprechenden Sexarbeiter*innen wird ihre Handlungshoheit abgesprochen, oder ihre Stimmen werden als Verteidigung der Interessen von Menschenhändlern und Ausbeutern diskreditiert.

Bezüglich des abolitionistischen Diskurses weisen die Forscher*innen unter anderem auf die fehlende Aufmerksamkeit für die Ursachen von Migration und Armut hin und betonen die Notwendigkeit, Sexarbeit nicht mit Menschenhandel zu verwechseln. Die Annahme, dass alle oder die meisten Sexarbeiter*innen Opfer von Menschenhandel sind, zeugt von einem stark vereinfachten Verständnis und wurde in unterschiedlichen Studien widerlegt. Die unkritische Verwendung des Begriffs verschleiert darüber hinaus den Schaden, den migrationsfeindliche Politik verursacht, beispielsweise wenn migrantische Sexarbeiter*innen im Zuge von Razzien gegen Menschenhandel verhaftet und abgeschoben werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die vorliegenden Erkenntnisse aus „Less equal than others“ die Notwendigkeit der Veränderung weg von einer repressiven hin zu einer progressiven Gesetzgebung in Bezug auf Sexarbeit mehr als deutlich machen.

Zwecks Bekämpfung von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung weist die Studie auf die Entkriminalisierung von Sexarbeit als eine der notwendigen Veränderungen zur Verringerung dieser Straftaten hin. Viele Organisationen unterstützen dies, unter anderem UNFPA, UN Women, UNAIDS und UNDP, einschlägige Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International und Organisationen gegen Menschenhandel wie GAATW und La Strada International.

Um die Rechte von Sexarbeiter*innen effektiv zu stärken, empfehlen die Forscher*innen deren Einbeziehung in die Entscheidungsfindung, Politikgestaltung und Debatten in den einzelnen Ländern. Denn es ist gerade der Ausschluss von marginalisierten Stimmen, der dafür sorgt, dass Sexarbeiter*innen entrechtet werden.

In Übereinstimmung mit den Werten der Europäischen Union müssen neue Wege gegangen werden, um die soziale und finanzielle Ungleichheit, die Stigmatisierung und die fehlende institutionelle Unterstützung von heimischen und migrantischen Sexarbeiter*innen zu verringern. Die Abschaffung schädlicher strafrechtlicher Gesetze und deren Durchsetzung gegen Sexarbeiter*innen, Kund*innen und Dritte ist überfällig.

Für Politiker*innen in Deutschland, die mit dem Thema Sexkaufverbot konfrontiert und im Zuge der Pandemie wieder vermehrt den Einflüsterungen der Abolitionismus-Lobby ausgesetzt sind, sollte diese Studie eine willkommene und notwendige Lektüre sein. Denn Untersuchungen wie diese sind die Voraussetzung dafür, dass politische Maßnahmen und gesetzliche Richtlinien auf wissenschaftlicher Evidenz anstelle von Moral oder Ideologie basieren.


Dieser Beitrag wurde von Sexarbeiterin und BesD-Mitarbeiterin Lilli Erdbeermund verfasst und zuerst auf der Website der Deutschen Aidshilfe veröffentlicht.