Immer die selben Gesichter! Zum Vorwurf der Privilegiertheit gegenüber sichtbaren Sexarbeitenden
Ich bin Sexarbeiterin, und normalerweise unter dem Pseudonym „Madame Simone“ tätig. Ich bin aber auch Partnerin, Mutter, Freundin, Tochter und Schwester. Wie die meisten meiner Kollegen und Kolleginnen habe ich ein soziales Umfeld, das mir wichtig ist.
Im Gegensatz zu vielen meiner Kolleg*innen bin ich allerdings komplett geoutet.
Gerade im Anti-Sexarbeits-Aktivismus wird immer wieder versucht, Kolleg*innen, die sich nicht geoutet und unter Pseudonym, mit Maske oder verfremdeter Stimme äußern, als unglaubwürdig und „fake“ abzuwerten.
Ihre Authentizität wird den sexarbeitenden Personen abgesprochen, weil sie nicht das Risiko eines Outings auf sich nehmen wollen oder können. Völlig schamlos – und vor allem wissentlich! – wird der Umstand, dass sich nicht viele Sexarbeitende outen können, benutzt, um Propaganda gegen uns zu machen.
Sichtbare Sexarbeitende bekommen im Gegenzug zu hören, dass wir zu den wenigen „Privilegierten“ gehören, die „es“ freiwillig und selbstbestimmt machen.
Dass wir ja nur eine kleine Prozentzahl wären, nicht repräsentativ, dass wir nicht für unsere mehrfach marginalisierten Kolleg*innen sprechen könnten und ähnliches. Es wird darauf hingewiesen, dass immer nur dieselben Gesichter gezeigt, immer nur dieselben Stimmen gehört werden.
Selbst für den BesD e.V., den Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen, den größten Verband dieser Art in Europa mit weit über 700 Mitgliedern aus über 20 Nationen, sprechen immer wieder dieselben Personen. Warum?
Weil die restlichen Mitglieder sich das einfach nicht leisten können! Egal, wie oft wir Interviewanfragen, Anfragen zu Vorträgen und ähnliches mehr mit unseren Mitgliedern teilen, wir haben immer dasselbe Ergebnis – einige wenige, die bereits geoutet sind, melden sich dafür.
Es ist auch kaum vorstellbar, wie kompliziert es ist, Mitglieder zu finden, die sich, wie bei jedem Verein für einen Vorstandsposten wählen lassen würden. Da wir im Vereinsregister mit unseren realen Namen eingetragen sind, finden sich von so vielen Mitgliedern immer nur eine kleine Handvoll, die sich das vorstellen könnten.
Und wir hätten so viele großartige, auch mehrfach marginalisierte Mitglieder, die ihre ganz wichtigen Positionen einbringen könnten! So wie es ist, arbeiten diese Kolleg*innen im Hintergrund. In Arbeitsgruppen, bei Projekten, beratend. Aber nicht sichtbar, weil es sie angreifbar macht.
Es gibt viele Punkte, die man als Privilegien bei Sexarbeitenden aufzählen könnte, insbesondere wenn wir auch noch weiß, nicht migrantisch, nicht behindert oder nicht queer sind. Manche von uns könnten theoretisch einem anderen Beruf nachgehen, den wir vielleicht mal gelernt haben. Manche können es sich leisten, nur nebenher in der Sexarbeit tätig zu sein, weil sie einen Hauptjob haben. Viele von uns sind keine Person of Colour oder Schwarz, und werden entsprechend nicht selbst tagtäglich mit Rassismus konfrontiert.
Ich darf ganz legal in diesem Land arbeiten, brauche schon seit vielen Jahren keine Arbeitsgenehmigung mehr und mein Aufenthaltstitel ist unbeschränkt. Ich habe keine nennenswerte Sprachbarriere und ich habe vor allem eines – den Support der mir nahestehenden Menschen.
Wir würden uns alle wünschen, wenn mehr unterschiedliche Kollegen und Kolleginnen offen sprechen könnten! Doch die allermeisten können sich ein Outing nicht trauen oder leisten.
Auch wir, die wir unser Gesicht offen zeigen können, die wir mit unseren echten Namen Vorträge halten, Workshops und Interviews geben können, haben die Sorge vor Ausgrenzung, auch wir möchten nicht aufgrund unseres Jobs abgewertet und stigmatisiert werden.
Aber wir müssen in der Regel nicht die Angst haben, dass wir von unseren Familien und Partner*innen verstoßen werden. Dass wir aus dem Land geworfen, uns unsere Existenzgrundlage, unser Job genommen wird.
Deshalb halte ich es für eines meiner größten Privilegien, die Möglichkeit zu haben, Gesicht zu zeigen, die eigene Stimme hörbar zu machen, und die der Kollegen und Kolleginnen zu verstärken, die das eben nicht können. Ich versuche dieses Privileg zu nutzen, wo es geht, um über die besagten Arbeits- und Lebensrealitäten von Sexarbeiter*innen in Deutschland zu sprechen.
Dieser Blogbeitrag enthält Auszüge aus dem Vortrag „Stigma und Diskriminierung in der Sexarbeit“ (18.04. Oval Office Bar, Bochum) von Liliane Kraft alias Madame Simone, geoutete Sexarbeiterin und BesD-Mitglied.