Prostitutions-Studien weisen nach – nordisches Modell in Frankreich gescheitert

Zusammenfassung:

  • Vergleich von drei Evaluationsberichten zum französischen Prostitutionsgesetz von 2016
  • Bewertung des Gesetzes insgesamt und Begründungen für das Scheitern des Gesetzes
  • Übereinstimmend in allen drei Evaluationen: Sowohl die Umsetzung als auch die Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes von 2016 werden sehr kritisch beurteilt.

Übereinstimmende Ergebnisse u.a.:

  • Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Menschen in der Prostitution
  • Maßnahmen entsprechen nicht den Bedürfnissen der Betroffenen
  • Sorge um sexuell übertragbare Krankheiten und den Zugang zur Gesundheitsversorgung ist gewachsen
  • Bekämpfung von Menschenhandel mangelhaft

In ihrer Arbeit von 2021 untersuchen die Autor*innen Néo Gaudy und Hélène Le Bail drei Evaluationen im Bezug auf die wichtigsten Punkte des französischen Prostitutionsgesetzes.

  • die Kriminalisierung von Kunden
  • Exit-Programme zum Ausstieg aus der Prostitution
  • Präventionsmaßnahmen
  • Bekämpfung von sexueller Ausbeutung und Menschenhandel

Sie vergleichen in ihrer Arbeit die Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen der offiziellen Evaluation der Regierung und den Evaluationen einer NGO. Außerdem  sie nehmen die unterschiedlichen Begründungen für das Versagen des Gesetzes unter die Lupe.

Um welche Evaluationen geht es?

Im Dezember 2019, etwas mehr als drei Jahre nach Einführung des Gesetzes, legte die Regierung einen Evaluierungsbericht vor.

Im diesem Bericht liegt der Fokus auf der Bewertung der Umsetzung des Gesetzes aus Sicht der Polizei-, Verwaltungs- und Justizbehörden.

Eine Gruppe von Sexarbeiter*innen und NGOs, die mit Sexarbeiter*innen arbeiten, haben ihrerseits Evaluierungsberichte  veröffentlicht. Erstmals im April 2018 in Vorbereitung auf die Evaluation der Regierung und ein zweites Mal 2020 als Antwort auf den Regierungsbericht.

Die Berichte der NGO legen ihren Fokus auf die Auswirkungen des Gesetzes auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Sexarbeiter*innen.


Kriminalisierung von Freiern, Bußgelder und Sensibilisierungskurse

Übereinstimmend in allen drei Evaluationen:

  • Verlagerung der strafrechtlichen Verantwortung hat nicht ausreichend geklappt
  • Scheitern der Maßnahme im Hinblick auf die Herstellung eines Macht-Gleichgewichts zwischen Sexarbeitenden und Kunden
  • Kritik an der Umsetzung der Geldstrafen für Kunden
  • Anzweiflung der Relevanz von Sensibilisierungskursen
  • Die Lebensbedingungen von Menschen in der Prostitution sind noch schwieriger geworden
  • Prekarität von Sexarbeiter*innen hat zugenommen
  • Sorge um sexuell übertragbare Krankheiten und den Zugang zur Gesundheitsversorgung ist gewachsen

Regierungs-Evaluation:

  • bemängelt das Fehlen von Studien und Erkenntnissen
  • Sensibilisierungskurse brauchen mehr Vereinheitlichung
  • Gewalt muss ernst genommen werden, es reicht nicht aus, lediglich zu versuchen, die Prostitution einzudämmen
  • stellt den Zugang zur Gesundheitsversorgung als Priorität dar, erkennt keine Kausalität mit der Kriminalisierung von Kunden
  • erkennt keine Kausalität zwischen der Zunahme der Gewalt und der Kriminalisierung von Kunden an
  • Betrachtet Verlagerung der Sexarbeit ins Internet als anhaltenden Trend, der auf die Entwicklung neuer Technologien zurückzuführen ist
  • befasst sich mit den Methoden des Kampfes gegen „Cyber-Zuhälterei“

NGO-Evaluationen:

  • bemängeln, dass Sensibilisierungskurse eine moralisierende Sicht auf Sexarbeit und verzerrte Realität vermitteln
  • betonen kausalen Zusammenhang zwischen repressiver Politik und der Verbreitung von sexuell übertragbaren Infektionen
  • betonen kausalen Zusammenhang zwischen mangelnden Zugang zur Gesundheitsversorgung und Zunahme der Gewalt, der Sexarbeitende ausgesetzt sind, durch die Kriminalisierung von Kunden
  • weisen darauf hin, dass die Schwierigkeit, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, ein weiteres Hindernis für den Zugang zur Gesundheitsversorgung darstellt
  • beklagen Mangel an politischem Willen, Maßnahmen zur Schadensbegrenzung für Sexarbeiterinnen umzusetzen
  • In beiden Berichten der zivilgesellschaftlichen Organisationen wird auf eine Verschlechterung des allgemeinen Gesundheitszustands von Sexarbeitern hingewiesen
  • Vermutet Beschleunigung der Verlagerung ins Internet im Zusammenhang mit Kriminalisierung, Verlust der Unabhängigkeit und möglichen Auswirkungen einer „cyber-repressiven Politik“

Programme zum Ausstieg aus der Prostitution

Übereinstimmend in allen drei Evaluationen:

  • Mängel bei der Einrichtung der zuständigen Ausschüsse festgestellt
  • ungleichmäßige Verteilung im Land
  • unzureichende Ausbildung der Mitarbeitenden  (Vertreter*innen der Gendarmerie, der Polizei, der Präfektur, des Arbeitsvermittlungssektors, des staatlichen Bildungssystems usw.)
  • übermäßige Uneinheitlichkeit der für das Ausstiegsprogramm geltenden Kriterien
  • Konflikt zwischen dem Programm und den Zielen der Einwanderungsbehörde
  • Ausschluss von relevanten NGOs aus Gründen der Akkreditierung
  • schwerfälliger Prozess der Antragserstellung
  • Mangel an finanziellen Mitteln
  • Ausstiegsprogramme sind weit davon entfernt, den Bedürfnisse gerecht zu werden: Maßnahmen sind nicht an die Realität von Sexarbeitende, die Wohnungskrise, die Beschäftigungskrise und die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen angepasst

Regierungs-Evaluation: 

  • Mangel an politischer Unterstützung
  • Mangelnde Kommunikation über die Existenz des Programms
  • Forderung nach einer Verbesserung des Programms

NGO-Evaluationen:

  • das Programm ist Schall und Rauch und ein vorhersehbarer Misserfolg
  • bemängeln,  dass die Beendigung der Prostitution eine Voraussetzung für die Beantragung des Ausstiegsprogramms ist
  • grundsätzliche Kritik: Das Programm wird von denjenigen, die es beantragen, als eine Quelle sozialer Kontrolle wahrgenommen und von denjenigen, die es ablehnen, als ein moralisierender, stigmatisierender Diskurs erlebt.

Bildungskomponente und Verhinderung von Prostitution Minderjähriger

Sieht die Einführung von „Informationsveranstaltungen über die Realität der Prostitution und die Gefahren der Kommerzialisierung des Körpers“ in weiterführenden Schulen vor – der Plan war, Wissen über die Verhinderung von Prostitution in die jährlichen Sexualerziehungsstunden in Mittel- und Oberschulen aufzunehmen.

Übereinstimmend in allen drei Evaluationen:

  • Es geht in den Evaluationen nicht um die Lehrpläne, sondern allgemein um die Notwendigkeit der Prävention angesichts des Problems der Prostitution unter Minderjährigen
  • Sowohl der Regierungsbericht als auch der NGO-Bericht beziehen ihre Überlegungen nicht nur auf Minderjährige, sondern auch auf junge Erwachsene

Regierungs-Evaluation: 

  • Es hat keine Rundschreiben zur Klärung dieses Teils des Gesetzes gegeben

NGO-Evaluationen:

  • Befürchtung, dass die wenigen praktischen Unterrichtseinheiten zur Prävention von einer reinen Anti-Prostitutions-Rhetorik abgelöst werden könnten

Bekämpfung von Menschenhandel und Zuhälterei

Hinweis: Der deklarierte Hauptzweck des Gesetzes  ist die Bekämpfung der Ausbeutung, insbesondere des Menschenhandels!

Übereinstimmend in allen drei Evaluationen:

  • Überblick über die Maßnahmen, die in Frankreich zur Bekämpfung des Menschenhandels bestehen
  • scharfe Kritik an mangelnder Kohärenz und Koordination mit den anderen Maßnahmen des Gesetzes

Regierungs-Evaluation: 

  • Die Koordinierung zwischen den zuständigen Ausschüssen und dem übrigen Rechtsapparat zur Bekämpfung des Menschenhandels ist mangelhaft
  • Aus den Felddaten geht nicht hervor, ob die Kriminalisierung der Kunden und der Rückgang der Nachfrage die Zahl der neuen Opfer des Menschenhandels verringert haben

NGO-Evaluationen:

  • Ein besserer Weg zur Bekämpfung des Menschenhandels bestünde darin, einer repressiven Migrationspolitik entgegenzuwirken und den Einwanderungsstatus der Betroffenen zu regularisieren.
  • Das Gesetz war von Anfang an falsch, da es in der Prostitution tätige Migranten*innen und Opfer von Menschenhandel in einen Topf wirft.
  • Die Anerkennung der unterschiedlichen Realitäten der Prostitution würde es ermöglichen, angemessenere politische Maßnahmen vorzuschlagen.

Bewertung des Gesetzes insgesamt und Begründungen für das Scheitern des Gesetzes

Übereinstimmend in allen drei Evaluationen:

  • Sowohl die Umsetzung als auch die Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes von 2016 werden sehr kritisch beurteilt.

Gründe laut Regierungs-Evaluation: 

  • Mangel an politischem Rückhalt und proaktivem Engagement seitens der Behörden
  • Mangel an Kommunikation mit der Öffentlichkeit
  • Unzureichende finanzielle Mittel für die soziale und beschäftigungspolitische Unterstützung von Menschen in der Prostitution bereitgestellt bzw. antizipiert
  • Unzureichende finanzielle Mittel für zivilgesellschaftliche Organisationen

Gründe laut NGO-Evaluationen:

  • Es gibt kaum Möglichkeiten zur Verbesserung des Gesetzes
  • Negative Auswirkungen sind auf die zugrundeliegenden politischen Entscheidungen zurückzuführen sind: abolitionistischer Ansatz, die Nachfrage zu unterdrücken, um das Angebot zu reduzieren
  • Prioritäten sollten nicht auf Bekämpfung der Prostitution, sondern auf der Bekämpfung von sexueller Ausbeutung liegen – Sexarbeit ist kein Problem an sich, sondern ein Problem unter den derzeitigen Bedingungen der Kriminalisierung.

 

Schlussfolgerungen:

Übereinstimmend in allen drei Evaluationen:

  • bestehende Maßnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels müssen besser umgesetzt werden
  • Finanzierung zwischen Organisationen, die sich für die Abschaffung des Menschenhandels einsetzen, und solchen, die dies nicht tun, muss ausgewogener werden
  • Notwendigkeit, die Maßnahmen zur Schadensbegrenzung und im Gesundheitsbereich zu verstärken
  • Änderung der Bedingungen für die Akkreditierung von Organisationen zur Mitarbeit bei Austiegsprogramm, deren Hauptziel nicht darin besteht, Menschen aus der Prostitution zu holen
  • Forderung, die Verpflichtung zur Beendigung der Prostitution aus den Bedingungen für die Teilnahme am Ausstiegsprogramm zu streichen

Regierungs-Evaluation: 

  • Kriminalisierung und End-Demand-Ansatz muss sich noch bewähren
  • Gesetz wird sich mit einigen Anpassungen, mehr Ressourcen und größerem politischen Willen als wirksam erweisen

NGO-Evaluationen:

  • Anprangern der Kundenkriminalisierung, die faktisch für die Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Sexarbeiterinnen verantwortlich ist.
  • Gewalt, Schwierigkeiten beim Zugang zu medizinischer Versorgung und die Stigmatisierung von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern wurden durch die Kriminalisierung der Kunden verschärft.
  • Es gibt kaum Möglichkeiten zur Verbesserung des Gesetzes


Französisches Original: https://sciencespo.hal.science/hal-03054400/document
Englische Übersetzung: https://sciencespo.hal.science/hal-03871960/document