Corona und Sexarbeit: Das Recht, nicht arbeiten zu müssen
Nach großen Protesten von Sexarbeitenden – unter anderem in Hamburg, Berlin, Köln und Stuttgart – kam letzte Woche die Nachricht aus Berlin: Es gibt endlich auch betreffend Sexarbeit Lockerungen. Und ab 1. September soll unter Auflagen zumindest in der Hauptstadt wieder der Kauf und Verkauf von Sex erlaubt sein.
BILD und Co. schreiben platte Sprüche wie „Prostituierte wollen endlich wieder Sex“
Ganz unabhängig von möglicher Freude an der Arbeit ging es den demonstrierenden Kolleg*innen vor allem darum, dass ihre Arbeitsplätze wieder öffnen und sie endlich wieder Geld verdienen können.
Es sind wirklich nicht alle Sexworker geil darauf zu arbeiten, weil sie ihren Job so lieben, wie es das sogenannte Happy-Hooker-Narrativ in den Medien und der sichtbare Aktivismus häufig suggerieren (Leseempfehlung: „Warum Sexarbeitende ihren Job nicht lieben müssen, um dafür Respekt zu verdienen“). Solche Vorstellungen tragen nichts zur Durchsetzung gleicher Rechte von Sexworkern bei, insbesondere nicht zur Durchsetzung der Rechte von illegalisierten und marginalisierten Kolleg*Innen.
Die lauten Rufe nach Lockerungen und Öffnung des Rotlicht-Gewerbes dürfen auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Sexworker aufgrund von Corona gerade gar nicht arbeiten wollen.
Viele Sexworker müssen trotz Corona arbeiten.
Weil sie eben irgendwie überleben müssen.
Weil sie sich nicht leisten können, weiter ihre Altersvorsorge zu plündern.
Weil sie keine finanzielle Rücklagen mehr haben.
Weil sie einfach ihre Miete zahlen müssen.
Weil sie ihre Familie nicht anders unterstützen können.
Weil sie Schulden haben.
Weil sie nicht alles verlieren möchten, was sie sich aufgebaut haben.
Trotz ihrer persönlichen Gesundheitssituation.
Trotz der Angst, sich möglicherweise selbst anzustecken – beispielsweise, wenn sie zu einer Risikogruppe gehören.
Trotz der Angst, möglicherweise andere anzustecken – beispielsweise Partner, Kinder oder Eltern, die vielleicht zu einer Risikogruppe gehören.
Trotz Arbeitsverboten – und daraus folgenden unsicheren Arbeitsbedingungen, gedrückten Preise oder schlechteren Kunden.
Staat lässt Sexarbeitende im Stich
Auch unter Sexworkern befinden sich Corona-Risikogruppen – sie benötigen finanzielle Unterstützung, damit sie jetzt nicht arbeiten müssen.
Das Problem ist: Staatliche Unterstützung erhalten vergleichsweise wenige Sexworker. Denn schon die Mindestvoraussetzungen dafür – legaler Aufenthalt bzw. Staatsangehörigkeit und der Besitz einer Steuernummer – erfüllen längst nicht alle. Den „Luxus“ einer Krankenversicherung oder eines festen Wohnsitzes haben noch weniger. Wer jetzt noch übrig ist, kann – wie viele Selbstständige – kaum auf finanzielle Rücklagen zugreifen.
Seit 15 Jahren ehrenamtlicher Politik stehen für mich die Interessen der schwächsten Mitglieder unserer Sexwork-Community im Vordergrund. 80% aller Sexworker in Deutschland sind Migrant*innen. Wo bleibt die staatliche finanzielle Unterstützung für die oft prekär arbeitenden Sexworker, die marginalisiert, mehrfach stigmatisiert, illegalisiert sind?
Das ist ein Skandal, nicht nur für die Arbeitssituation in Deutschland, sondern weltweit.
Viele Sexworker sind völlig verzweifelt. Aus Deutschland und anderen Ländern erfuhr ich vom tragischen Tod einiger Sexworker durch Suizid. Der Nothilfe Fonds des BesD ist nun leer und wir können aktuell keine Sexworker in Notlagen mehr unterstützen. Ehrlich gesagt, ist es aber auch gar nicht die Aufgabe eines Berufsverbandes, staatliche Verantwortung zu übernehmen. Der Staat versagt, wenn er sich nicht um die Ärmsten der Armen kümmert.
Corona-Pandemie zeigt Auswirkungen repressiver Prostitutionspolitik
Mir fällt auf, dass die Sexworker am Straßenstrich in Berlin während des Arbeitsverbots aufgrund der Corona-Pandemie das gleiche berichten, wie auch die Sexworker in Schweden und Irland es seit dem dortigen Sexkaufverbot tun: Aufgrund des Verbots bleiben nur noch die schlechten Kunden übrig, weshalb es auch zu vermehrter Gewalt kommt. Die achtsamen, respektvollen Kunden sind vorsichtig und bleiben weg.
In über 130 wissenschaftlichen Studien wurden die Auswirkungen repressiver staatlicher Prostitutionspolitik untersucht.*
Die Kurzfassung: Ein Verbot der Sexarbeit führt immer zu einem Anstieg von Gewalt gegen Sexarbeitende.
Politischer Aktivismus – Unterstützung für Sexarbeiter*innen, die sich engagieren wollen
Ich persönlich stehe der sogenannten Respectability Politik – also dem „Andienen“ von ausgewählten Einzelnen aus marginalisierten Gruppen an den „Mainstream“ – kritisch gegenüber und glaube, dass manche Aussagen eher schaden, als dass sie nützen. Deshalb plädiere ich für professionelles Coaching für Sexworker, die in den Aktivismus einsteigen wollen oder noch wenig Erfahrung mit politischer Arbeit haben und Unterstützung suchen. Dabei geht es darum, mögliche Kommunikations-Fehler in der aktivistischen Arbeit zu identifizieren (Stichwort: Demo-Plakate), engagierte Menschen zu ermutigen und zu empowern und gemeinsam Strategien zu entwickeln. Der Termin wird hier rechtzeitig bekannt gegeben. Nachfragen gerne an susanne@besd-ev.de.
Dieser Blogartikel stammt von BesD-Vorständin und ehemaliger Sexarbeiterin Susanne Bleier-Wilp. Sie ist seit vielen Jahren als Aktivistin für die Rechte von Sexarbeiter*innen im In- und Ausland aktiv.
* Platt, Lucy, Grenfell, Pippo; Meiksin, Rebecca et. al 2018: Associations between sexwork laws and sexworkers health. A systematic review and meta-analysis of quantitative and qualitative studies. In: PLoS Med 15(12), e1002680, S. 1-54
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